Leben
oder Tod, Sieg oder Niederlage, Gelingen oder Scheitern; allen Krisen ist gemeinsam,
dass sie eine Wende in schwieriger Situation erwarten. Der griechische Begriff krisis bedeutet Wendung, wobei ihr
Ausgang offen ist. Wir können nicht zweifellos wissen, ob eine Krankheit zur
Heilung oder zum Tod führt. Dieses Nichtwissen, dieses Nicht-Beurteilten-Können
und es aber so sehr wollen, macht die Krise für uns zur Krise. Diesen
Doppelcharakter spiegelt das Wort krisis, denn krisis bedeutet nicht nur Wendung, sondern auch Gericht
und Urteil. Wir möchten die Situation richtig beurteilen und damit so
zum Ende führen, wie wir es möchten, bevor die Krankheit oder die Revolution ihre
eigenen Entscheidungen trifft. Im Arabischen gibt es eine Parallele in dem Wort
qada’. Es hat u. a. ebenfalls die
Bedeutung Entscheidung, Urteil. (Unser deutsches Wort „Kadi“
leitet sich davon ab.) Es bedeutet aber auch: die ewige universale Bestimmung der Dinge in ihrer Abfolge, die Gott
entscheidet.
Alles ist
aufgeschrieben
Der
Islam kennt eine ganze Reihe weiterer Wörter, wenn es um den Gesichtspunkt der
Bestimmung geht. Gelegentlich begegnet man diesen Worten auch im Alltag, so
z.B. als ich Ende Januar 2006 den Sohn einer sehr kranken Mutter vor der
Röntgenabteilung des deutschen Krankenhauses in Assuan mit einem Zuspruch
trösten wollte und dieser tief überzeugt antwortete: „kullu maktūb“, was
bedeutet: alles ist aufgeschrieben. Er
wollte damit sagten: alles ist
vorherbestimmt. Wir machen uns keine Sorgen. Machen Sie sich bitte auch keine
Sorge. Mit diesem Wort begegnen Muslime immer wieder ihren Krisen. Der
Begriff leitet sich aus dem Koran ab: „Nimmer trifft uns ein andres, als was
Allah uns verzeichnet“ (Sure 9,51), oder: jede Gemeinschaft wird „am Tag der
Auferstehung“ zu ihrem „Geschriebenen gerufen“ (Sure 45,26-28). In Paul Coelhos
Weltbestseller „Der Alchimist“ oder in dem mit acht Oscars ausgezeichneten Film
„Slumdog Millionär“ wird dieser zentrale muslimischen Ausdruck künstlerisch umgesetzt:
Menschen kommen durch viele Krisen dennoch zum Ziel, denn alles ist „maktūb“.
Ist
dieser Ausdruck also eine Art Allheilmittel? Für gewöhnlich wird der Ausdruck
„maktūb“ als Entlastung verstanden, denn wie soll man an etwas mittragen, das
man nicht beurteilen kann? Diese Haltung ist es, die wir oft mit dem Islam verbinden
– dem Fatalismus, dem Kismet – so hört
man es gelegentlich; dabei wird dieser Gedanke ebenso deutlich in der Bibel zum
Ausdruck gebracht:
„Was über uns ist,
geht uns nichts an“
In
Psalm 139 heißt es: „alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden
sollten.“ Durch dieses „aufgeschrieben“ sei der Mensch entlastet (vgl. Offb
5,1), denn sein Handlungsspielraum liegt an dieser Stelle nicht über seinem
Vermögen. Martin Luther sagt in seiner Hauptschrift „Vom unfreien Willen“: „Was
über dem Menschen ist, geht ihn nichts an“ (LD 3/247). Darin – so Luther – hat
der Mensch keinen freien Willen. Der moderne und aufgeklärte Mensch weist dies
von sich, empfindet er sich doch gänzlich als frei. Aber nach Luther, der
biblisch und nicht philosophisch oder humanistisch denkt, sind die Dinge, die über uns stehen, von uns nicht zu entscheiden
und damit auch vom Tisch; darin liegt die Entlastung.
Sowohl
der Islam als auch das Christentum kennen somit die Lehre von der Vorsehung und
der Prädestination und beide ringen dabei um die Frage, wie das alles zusammen mit
der Verantwortlichkeit des Menschen verstanden werden soll. Denn was kann der
Mensch verantworten, wenn doch kommt, was kommen muss? Luther würde aber sagen:
kümmere dich um die Dinge, die unter dir sind, denn da kannst du
entscheiden, aber nicht in der Frage des Heils oder der Zukunft. Trotz Vorherbestimmung,
kennt man einen Handlungsspielraum im Islam, der den Menschen zur Verantwortung
auffordert, der interessanter Weise dort ansetzt, wo der Christ sagen wird: Nein,
hier ist nichts zu machen, weil der Mensch gänzlich von Gott getrennt ist, weil
er Tod in der Sünde ist, weil hier etwas über
ihm steht. Er weiß, hier nützt kein Appell mehr, sondern nur noch
Totenauferweckung und das geschieht durch Gnade. Der Islam, der keine
grundsätzliche Verlorenheit (Erbsünde) kennt, ruft den Menschen immer noch auf:
kümmere dich um dein Heil, denn du vermagst es. Paradoxerweise muss man aber gleichzeitig
feststellen, dass fast jeder Muslim auf die Frage, ob er nach der Veranstaltung
noch auf einen Tee vorbeikommen wolle, mit der Floskel antwortet: „wenn Gott
will“, so, als hätte er diese Alltagssituation nicht in seiner Hand. Muslime
sehen das, was Luther als unter dem Menschen betrachtet, immer noch ganz
in der Hand Gottes. Sie leben daher (scheinbar) gelassener, aber oft auch ohne
Gestaltungskraft in der Herausforderung, ihre Krisen selbst in die Hand zu
nehmen, weil sie sogar Kleinigkeiten von Gott ableiten, bzw. ihm zuschreiben
wollen. Christen bewahren sich in einer Krise einen viel größeren
Gestaltungsoptimismus, weil sie die Alltagskrisen als etwas unter dem
Menschen ansehen.
Gericht als letzte Krise
Johan
Bouman (1918-1998), ein niederländischer Islamwissenschaftler, vergleicht in
seinem Buch „Glaubenskrise und Glaubensgewissheit im Christentum und Islam“ den
christlichen Theologen Augustinus (gest. 430) mit dem islamischen Theologen
Al-Ghazali (gest. 1111). Die Unterschiede werden nämlich auch an der Rolle deutlich,
die Mohammed und Jesus in der letzten „Krise“, dem jüngsten Gericht spielen. Das
Wort krisis wird – wie anfangs erwähnt - mit Gericht übersetzt und kann
auch als solches verstanden werden, nämlich in der für den Verurteilten noch
offenen Frage: „Schuldig oder nicht schuldig“? Die Frage, wer ist schuld an der
Krise, wird oft gestellt. Vor einem letzten Gericht wird eines Tages alles
verhandelt werden. Im Islam muss Mohammed – wenn auch als Held – selbst im
Gericht erscheinen. Im Gegensatz zu Mohammed ist Jesus Christus die zentrale
Gestalt im Endgericht, nicht nur fürbittend (Joh 17), sondern vor allem als
Richter. Während Ghazali und auch Mohammed das göttliche Licht nur empfangen zu
haben meinen, wie Bouman resümiert (II, S. 344-350), so kann Augustinus
aufgrund der Bibel behaupten, dass Jesus nicht das Licht empfing, sondern das
Licht selbst ist. In diesem Licht wird am Ende alles beurteilt werden, denn es
heißt in Joh 3,19: „Das ist das Gericht
(orig. krisis), dass das Licht in die Welt gekommen ist.“ Die letzte Krise
hat also einen Namen und eine lebendige Hoffnung, nämlich Jesus Christus.