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Liesmich!
Stellen
Sie sich vor, Sie sehen irgendwo in Deutschland ein Verkehrsschild, auf dem
einfach nur „Liesmich!“ stünde. Ein solches nur auf sich selbst verweisendes
Schild käme uns merkwürdig vor! Umso mehr, wenn es sich dabei um einen viel
längeren Text handelte, der nur davon erzählte, wie wichtig es sei, dass er
gelesen werde und dem Leser in Aussicht stellte, ihn durch seine über alle
Maßen schönen Inhalt zu belohnen. Ein
auf sich selbst verweisendes Zeichen oder eine auf sich selbst verweisende Sache
nennen wir selbstbezüglich. Selbstbezüglichkeit spielt in der Logik und der Bedeutungslehre
von Zeichen immer dann eine problematische Rolle, wenn ein Zeichen als
Bestandteil seiner eigenen Bedeutung in Erscheinung tritt, wie in unserem
Beispiel: ein auf sich selbst verweisendes Schild. Es gibt unterschiedliche Grade
und Formen: Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht,
oder die Frage: „Was ist eine Frage?“ Oder wir denken an M.C. Eschers bekannte Zeichnungen
von den sich selbst zeichnenden Händen, die dem gesunden Menschenverstand unbehaglich
werden.
Selbstreferenz ist erwünscht, wie bei der bekannten Computerdatei
"liesmich.txt", aber eben auch fraglich, wenn es um absolute Verhältnisse
in einer für uns relativen Welt geht, wie die Rettung aus dem bodenlosen Sumpf bei Münchhausen oder dem Selbstanspruch
eines Textes, mehr als heilig zu sein.
Selbstbezug im Koran
Wie
kein anderer heiliger Text verweist der Koran immer wieder auf sich selbst. Aus
diesem Grund findet sich in ihm eine stattliche Anzahl von Begriffen, mit denen
er auf sich selbst Bezug nimmt, z.B. Rezitation, Erinnerung, Kunde, Gute
Nachricht, Warnung, Herabsendung, Offenbarung; Predigt, Lehre, Ermahnung;
Gleichnis, Urteil, deutliche Botschaft, Geschichte, Erlaubnis, Weisheit,
Rechtleitung und Zeichen. Manche dieser Worte kommen zweimal vor, wie das Wort
Offenbarung, andere wie das Wort Zeichen weit über 200-mal. Schon ganz am
Anfang verweist der Koran auf sich selbst: „Dies
Buch, daran ist kein Zweifel, ist eine Leitung für die Gottesfürchtigen …“
(Sure 2,1-2). Stefan
Wild (*1937) hat ein ganzes Buch zu diesem Thema herausgegeben (Self-referentiality
in the Qur`an, Wiesbaden, 2006), aus dem einige Erkenntnisse im Folgenden verarbeitet
sind. Im Koran findet sich immer wieder der selbstbezügliche Zirkelschluss: Die
Botschaft ist wahr, weil Gott durch sie spricht. Gott spricht durch sie, weil
der Prophet nicht lügt. Beispiel: Sure 69,40-45: "Siehe, es ist wahrlich
die Rede eines edlen Gesandten. Und nicht ist es die Rede eines Poeten. (...) Und
nicht ist es eines Wahrsagers Wort. (...) Eine Hinabsendung von dem Herrn der
Welten! Und hätte er wider uns einige Sprüche ersonnen, so hätten wir ihn bei
der Rechten erfasst…“
Eine
typische Eigenheit ist, dass der rezitierte Text im Zusammenhang einer Zuhörerschaft
entstanden ist, aber in der geschriebenen Version kein Auditorium mehr kennt,
welches durch den Leser ergänzt werden muss. Ein vollständig geschriebener
Koran lag erst spät vor. Hinzu kommt, dass der Koran einem permanenten Wandlungsprozess
unterworfen war, der solange anhielt, wie Muhammad lebte und es das Spiel
zwischen Prophet und ersten Hörern gab, und erst mit der Fertigstellung des "mushaf" , – des "auf Blätter geschriebenen" Korans –
endete. Bis zu diesem Punkt nimmt der Koran Bezug auf Gläubige, liturgische Situationen
und Polemiken: die ablehnende Haltung in Mekka provozierte Verschlossenheit,
Distanz, Hoffnung, Verzweiflung, Segnung und Verfluchung. Dreißig Verse
sprechen von Spöttern und Spott.
Selbstbezug ist die Stimmung des gesamten Koran
Die
selbstbezügliche Stimme versucht zu überzeugen. Sie sucht ihren Platz. Selbstreflexivität
ist nicht nur ein Aspekt im Text,
sondern sie prägt die Stimmung und Art fast des gesamten Textes. Die rezitierte Botschaft spricht über sich selbst;
der Prophet spricht über sich selbst; auch Gott spricht über sich selbst. Das
ganze überlappt sich: Der Prophet spricht über die Botschaft, die Botschaft
spricht über Gott, Gott spricht über den Propheten usw… Der Leser darf das dann
entflechten. Der Koran ist indirekte Rede: Gott spricht im Koran zu Adam (z.B.
Sure 2,29ff), dieses Gespräch wird an Muhammad weitergeleitet und von Muhammad
als doppelt indirekte Rede an die Mekkaner und Medinenser weitergegeben. Eine
Vielzahl von Stimmen richtet sich an eine Vielzahl von Hörern. Manchmal weiß
man das aber nicht oder es wird nicht angezeigt. Der
Koran spricht über sich selbst, weil er durch Muhammad in eine Welt kommt, in
der es bereits heilige Schriften gibt; er muss daher den Koran als neue Schrift
rechtfertigen.
Die Bibel kennt sich nicht
Anders
als der Koran oder auch das Buch Mormon, das ebenfalls mit einem
selbstbezüglichen Verweis beginnt, rechtfertigt die Bibel sich nicht. Die Bibel
kennt sich nicht selbst. Sie beginnt mit dem Anfang der Welt. Das Zeitfenster
ihrer Entstehung ist mit ca. tausend Jahren viel zu groß, um am Ende von einem
Einzelstandort aus abgeleitet werden zu können. Auch
das Neue Testament kennt den Selbstbezug, z.B. "Dies ist der Jünger, der
dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis
wahr ist“ (Joh 21,24). Weitere Beispiele lassen sich in einigen Briefen von
Paulus und Petrus finden (Gal 1,11-12, 2 Petr 1,15-18, Joh 20,30-31, 2 Petr
3,15-16). Diese
– im Vergleich zum Koran – sehr wenigen Stellen haben einen mehr oder weniger
ausgeprägten selbstbezüglichen Charakter, der in einem persönlichen Brief oder
Evangelium allerdings auch erwartet werden darf. Das NT und seine
selbstreferentiellen Stellen beziehen sich niemals auf die gesamte Bibel. Die
Evangelien sind nicht in der Absicht geschrieben worden, als heilige und
absolute Texte im Sinne des Koran zu gelten, von dem Muslime glauben, er sei
ungeschaffen und ewig. Im
Gegensatz zu Mohammad, der als Prophet in den bekannten Schriften der Bibel keine
Resonanz findet, gibt es im Alten Testament einige Aussagen (z.B. Jes 53), die eine
deutliche Beziehung zu Jesus herstellen, wie später in der Passionsgeschichte der
Evangelien erzählt wird. Die
Selbstreferenz im Koran ist gerade deshalb so stark, weil die biblische Schriftreferenz
für Muhammad nichts abwirft. Muhammad hat keinen Mose, keinen Jesaja, keinen
Johannes den Täufer, die ihn wenigsten indirekt ankündigten. Der Koran ist aus
dieser Perspektive betrachtet im Gegensatz zur Bibel absolut. Muslime sind sich
dessen bewusst und versuchen, einen Bezug zum AT 600 Jahre nach Christus nachzuholen.
Stellen aus der Bibel werden immer wieder als Beleg herangezogen, zum Beispiel 5.
Mose 18,15: „Einen Propheten wie mich [Mose] wird dir der Herr, dein Gott, erwecken."
Dieser soll nun angeblich Muhammad sein. Der
Koran erwähnt zwar das AT und NT (Sure 5,48; 61,6), aber gewährt ihnen keinen
Ort in seinem Kanon. Jesus betont hingegen, dass vom Gesetz, der Torah, dem AT,
kein Tüpfelchen verloren gehen darf. Jesus lässt die Bibel mit einem
entschiedenen Schriftbezug zu Wort kommen (Mt 5,17): “Ihr sollt nicht meinen,
dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht
gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Der Koran erwartet in seiner selbstbezüglichen Art
am Ende Ergebung (Islam), denn durch seinen ausgeprägten Selbstverweis entzieht
er sich jeglicher Kritik. Jesus hingegen lebte seinen Selbstanspruch ("Wer
mich sieht, sieht den Vater"), und ließ gleichzeitig Kritik zu bis zur
Verurteilung am Kreuz. Er suchte Vertrauen und keine Unterwerfung. Die
Möglichkeit in der Krise seines Lebens auf sich selbst als der gesalbte König
(Messias) zu verweisen, indem er vom Kreuz steigt, wie es ihm die Spötter
zurufen, nimmt Jesus nicht wahr. Was bleibt ist allein der Verweis auf die
Inschrift seiner Ankläger oben am Kreuz, ein "Liesmich" in drei
Sprachen: "Jesus Christus, König der Juden" in Hebräisch, Griechisch
und auf Latein, dass erst im Licht seiner Auferstehung verstanden wurde.
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