24 August, 2013

Liesmich!

Stellen Sie sich vor, Sie sehen irgendwo in Deutschland ein Verkehrsschild, auf dem einfach nur „Liesmich!“ stünde. Ein solches nur auf sich selbst verweisendes Schild käme uns merkwürdig vor! Umso mehr, wenn es sich dabei um einen viel längeren Text handelte, der nur davon erzählte, wie wichtig es sei, dass er gelesen werde und dem Leser in Aussicht stellte, ihn durch seine über alle Maßen schönen Inhalt zu belohnen. Ein auf sich selbst verweisendes Zeichen oder eine auf sich selbst verweisende Sache nennen wir selbstbezüglich. Selbstbezüglichkeit spielt in der Logik und der Bedeutungslehre von Zeichen immer dann eine problematische Rolle, wenn ein Zeichen als Bestandteil seiner eigenen Bedeutung in Erscheinung tritt, wie in unserem Beispiel: ein auf sich selbst verweisendes Schild. Es gibt unterschiedliche Grade und Formen: Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, oder die Frage: „Was ist eine Frage?“ Oder wir denken an M.C. Eschers bekannte Zeichnungen von den sich selbst zeichnenden Händen, die dem gesunden Menschenverstand unbehaglich werden.

 















Selbstreferenz ist erwünscht, wie bei der bekannten Computerdatei "liesmich.txt", aber eben auch fraglich, wenn es um absolute Verhältnisse in einer für uns relativen Welt geht, wie die Rettung aus dem bodenlosen Sumpf bei Münchhausen oder dem Selbstanspruch eines Textes, mehr als heilig zu sein.

Selbstbezug im Koran

Wie kein anderer heiliger Text verweist der Koran immer wieder auf sich selbst. Aus diesem Grund findet sich in ihm eine stattliche Anzahl von Begriffen, mit denen er auf sich selbst Bezug nimmt, z.B. Rezitation, Erinnerung, Kunde, Gute Nachricht, Warnung, Herabsendung, Offenbarung; Predigt, Lehre, Ermahnung; Gleichnis, Urteil, deutliche Botschaft, Geschichte, Erlaubnis, Weisheit, Rechtleitung und Zeichen. Manche dieser Worte kommen zweimal vor, wie das Wort Offenbarung, andere wie das Wort Zeichen weit über 200-mal. Schon ganz am Anfang verweist der Koran auf sich selbst: „Dies Buch, daran ist kein Zweifel, ist eine Leitung für die Gottesfürchtigen …“ (Sure 2,1-2).  Stefan Wild (*1937) hat ein ganzes Buch zu diesem Thema herausgegeben (Self-referentiality in the Qur`an, Wiesbaden, 2006), aus dem einige Erkenntnisse im Folgenden verarbeitet sind. Im Koran findet sich immer wieder der selbstbezügliche Zirkelschluss: Die Botschaft ist wahr, weil Gott durch sie spricht. Gott spricht durch sie, weil der Prophet nicht lügt. Beispiel: Sure 69,40-45: "Siehe, es ist wahrlich die Rede eines edlen Gesandten. Und nicht ist es die Rede eines Poeten. (...) Und nicht ist es eines Wahrsagers Wort. (...) Eine Hinabsendung von dem Herrn der Welten! Und hätte er wider uns einige Sprüche ersonnen, so hätten wir ihn bei der Rechten erfasst…“ 
Eine typische Eigenheit ist, dass der rezitierte Text im Zusammenhang einer Zuhörerschaft entstanden ist, aber in der geschriebenen Version kein Auditorium mehr kennt, welches durch den Leser ergänzt werden muss. Ein vollständig geschriebener Koran lag erst spät vor. Hinzu kommt, dass der Koran einem permanenten Wandlungsprozess unterworfen war, der solange anhielt, wie Muhammad lebte und es das Spiel zwischen Prophet und ersten Hörern gab, und erst mit der Fertigstellung des "mushaf" , – des "auf Blätter geschriebenen" Korans – endete. Bis zu diesem Punkt nimmt der Koran Bezug auf Gläubige, liturgische Situationen und Polemiken: die ablehnende Haltung in Mekka provozierte Verschlossenheit, Distanz, Hoffnung, Verzweiflung, Segnung und Verfluchung. Dreißig Verse sprechen von Spöttern und Spott. 

Selbstbezug ist die Stimmung des gesamten Koran 

Die selbstbezügliche Stimme versucht zu überzeugen. Sie sucht ihren Platz. Selbstreflexivität ist nicht nur ein Aspekt im Text, sondern sie prägt die Stimmung und Art fast des gesamten Textes. Die rezitierte Botschaft spricht über sich selbst; der Prophet spricht über sich selbst; auch Gott spricht über sich selbst. Das ganze überlappt sich: Der Prophet spricht über die Botschaft, die Botschaft spricht über Gott, Gott spricht über den Propheten usw… Der Leser darf das dann entflechten. Der Koran ist indirekte Rede: Gott spricht im Koran zu Adam (z.B. Sure 2,29ff), dieses Gespräch wird an Muhammad weitergeleitet und von Muhammad als doppelt indirekte Rede an die Mekkaner und Medinenser weitergegeben. Eine Vielzahl von Stimmen richtet sich an eine Vielzahl von Hörern. Manchmal weiß man das aber nicht oder es wird nicht angezeigt. Der Koran spricht über sich selbst, weil er durch Muhammad in eine Welt kommt, in der es bereits heilige Schriften gibt; er muss daher den Koran als neue Schrift rechtfertigen. 

Die Bibel kennt sich nicht

Anders als der Koran oder auch das Buch Mormon, das ebenfalls mit einem selbstbezüglichen Verweis beginnt, rechtfertigt die Bibel sich nicht. Die Bibel kennt sich nicht selbst. Sie beginnt mit dem Anfang der Welt. Das Zeitfenster ihrer Entstehung ist mit ca. tausend Jahren viel zu groß, um am Ende von einem Einzelstandort aus abgeleitet werden zu können. Auch das Neue Testament kennt den Selbstbezug, z.B. "Dies ist der Jünger, der dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“ (Joh 21,24). Weitere Beispiele lassen sich in einigen Briefen von Paulus und Petrus finden (Gal 1,11-12, 2 Petr 1,15-18, Joh 20,30-31, 2 Petr 3,15-16). Diese – im Vergleich zum Koran – sehr wenigen Stellen haben einen mehr oder weniger ausgeprägten selbstbezüglichen Charakter, der in einem persönlichen Brief oder Evangelium allerdings auch erwartet werden darf. Das NT und seine selbstreferentiellen Stellen beziehen sich niemals auf die gesamte Bibel. Die Evangelien sind nicht in der Absicht geschrieben worden, als heilige und absolute Texte im Sinne des Koran zu gelten, von dem Muslime glauben, er sei ungeschaffen und ewig. Im Gegensatz zu Mohammad, der als Prophet in den bekannten Schriften der Bibel keine Resonanz findet, gibt es im Alten Testament einige Aussagen (z.B. Jes 53), die eine deutliche Beziehung zu Jesus herstellen, wie später in der Passionsgeschichte der Evangelien erzählt wird. Die Selbstreferenz im Koran ist gerade deshalb so stark, weil die biblische Schriftreferenz für Muhammad nichts abwirft. Muhammad hat keinen Mose, keinen Jesaja, keinen Johannes den Täufer, die ihn wenigsten indirekt ankündigten. Der Koran ist aus dieser Perspektive betrachtet im Gegensatz zur Bibel absolut. Muslime sind sich dessen bewusst und versuchen, einen Bezug zum AT 600 Jahre nach Christus nachzuholen. Stellen aus der Bibel werden immer wieder als Beleg herangezogen, zum Beispiel 5. Mose 18,15: „Einen Propheten wie mich [Mose] wird dir der Herr, dein Gott, erwecken." Dieser soll nun angeblich Muhammad sein. Der Koran erwähnt zwar das AT und NT (Sure 5,48; 61,6), aber gewährt ihnen keinen Ort in seinem Kanon. Jesus betont hingegen, dass vom Gesetz, der Torah, dem AT, kein Tüpfelchen verloren gehen darf. Jesus lässt die Bibel mit einem entschiedenen Schriftbezug zu Wort kommen (Mt 5,17): “Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Der Koran erwartet in seiner selbstbezüglichen Art am Ende Ergebung (Islam), denn durch seinen ausgeprägten Selbstverweis entzieht er sich jeglicher Kritik. Jesus hingegen lebte seinen Selbstanspruch ("Wer mich sieht, sieht den Vater"), und ließ gleichzeitig Kritik zu bis zur Verurteilung am Kreuz. Er suchte Vertrauen und keine Unterwerfung. Die Möglichkeit in der Krise seines Lebens auf sich selbst als der gesalbte König (Messias) zu verweisen, indem er vom Kreuz steigt, wie es ihm die Spötter zurufen, nimmt Jesus nicht wahr. Was bleibt ist allein der Verweis auf die Inschrift seiner Ankläger oben am Kreuz, ein "Liesmich" in drei Sprachen: "Jesus Christus, König der Juden" in Hebräisch, Griechisch und auf Latein, dass erst im Licht seiner Auferstehung verstanden wurde.

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